Reflexionen aus dem Tanz
Vom Führen und Verführen
Paartanz und Geschlechterrollen in Lottes Ballhaus
Tanz als Kunstform, aber gerade auch Gesellschaftstänze wie Walzer und Tango zeigen häufig stereotype Geschlechterrollen. Sonja Wilhelm sprach mit Tänzerinnen und Tänzern des Mainfranken Theaters über ihre Erfahrungen bei Lottes Ballhaus.
„In Lottes Ballhaus kannst du sein, wer du willst!“, heißt es zu Beginn des Stücks. In der neuen Tanzproduktion finden sich allerlei Formen von Duetten, gleichgeschlechtliche wie gemischte Paare, Tänzerinnen, die Tänzer heben... Alle Arten von Beziehungen sollen repräsentiert sein. Binäre Geschlechterrollen werden reflektiert, aber immer wieder aufgelöst. Maya Tenzer führt in Lottes Ballhaus durch den Abend. Immer wieder erscheint die Figur mit Hut und Schnurrbart, zunächst im dunklen Anzug, dann im voluminösen Ballrock. „Bei der Erarbeitung der Rolle habe ich mich mit verschiedenen Bewegungsqualitäten auseinandergesetzt. Was bedeutet in dem Zusammenhang überhaupt „männlich“ oder „weiblich“...? Eine Untersuchung der eigenen Gebärden zeigte, dass ich mich als Frau zunächst eher kleiner mache, nicht so selbstbewusst auftrete, wie ich könnte. Das wollte ich aufbrechen, Bewegungsgewohnheiten entlernen. Und ja, bereits das Auflegen eines Schnurrbarts kann die Verhaltensweise beeinflussen. In meiner Rolle fühle ich mich unglaublich frei, durch die nicht fixierte Kleidung, den stetigen Wechsel, kein entweder das Eine oder das Andere, eben nicht binär, einfach fließend“, so Tenzer.
Binäre Geschlechterrollen werden reflektiert, aber immer wieder aufgelöst.
Faszinierende Perspektivwechsel
Matthew Perko, seit dieser Spielzeit neu am Mainfranken Theater, tanzt für Lottes Ballhaus erstmals auch in der geführten Position, sowohl im Duett mit anderen Tänzern als auch Tänzerinnen: „Das ist tanztechnisch ein faszinierender Perspektivwechsel. Ich habe schon viele Duette getanzt, aber man erlebt diese gleiche Situation noch einmal neu. Wir lernen in unserer Ausbildung scheinbar genderspezifische Techniken, wie das Führen, Stützen oder Heben. Und plötzlich ist es wie eine Spiegelung der gewohnten Bewegungsabläufe.“
In Lottes Ballhaus verführen sich auch die gleichgeschlechtlichen Paare gegenseitig.
Für Marcel Casablanca war nicht das Duett mit einem anderen Mann die Besonderheit, sondern vielmehr die Intention, die darin steckt: „Wenn ich früher in Stücken ein gleichgeschlechtliches Duett getanzt habe, ging es entweder um eine freundschaftliche Energie oder die zweier Rivalen. In Lottes Ballhaus verführen sich auch die gleichgeschlechtlichen Paare gegenseitig. Die Partnerarbeit mit einem anderen Mann, mit dem ich die gleichen Schritte tanze wie die gemischten Paare in Lottes Ballhaus, war für mich eine schöne Erfahrung. Mehr noch: zu sehen, dass alle Formen von Beziehungen normalisiert werden.“
Venetia Lim Jia Yee tanzt in Lottes Ballhaus sowohl mit ihren männlichen als auch weiblichen Ensemblemitgliedern: „In der modernen Tanzkunst sind wir heute schon weiter. Es ist für uns in unserem Arbeitsalltag eigentlich normal, dass alle mit allen tanzen, und ebenso jede und jeder führen oder geführt werden kann. Spätestens seitdem es Kontaktimprovisation gibt, eine Tanzpraxis, die es jeder und jedem ermöglicht, in der Partnerarbeit zu führen oder geführt zu werden. Es hat Spaß gemacht, in Lottes Ballhaus stereotype Rollenverteilungen zu untersuchen und sie spielerisch aufzubrechen, sei es durch die Choreografie und Zusammensetzung der Tanzpaare oder die individuellen Kostüme.“