PREMIERE MUSIKTHEATER

ÜBERBORDENDE EMOTIONALITÄT

Zur Premiere von Tschaikowskis Eugen Onegin in der Blauen Halle
Peter Tschaikowskis Eugen Onegin beschließt als letzte Premiere der Opernsparte die Saison 21/22. Für die Inszenierung der 1879 uraufgeführten „lyrischen Szenen“ konnte erstmals Regisseurin Agnessa Nefjodov für das Mainfranken Theater gewonnen werden. Als Interpret der fordernden Titelpartie gibt Bariton Hinrich Horn sein Debüt. Es ist im Frühjahr 1877, als Peter Tschaikowski eher zufällig auf Alexander Puschkins Eugen Onegin (1823-30) als Grundlage für eine Oper gestoßen wird: „Ich las ihn mit Begeisterung und verbrachte eine völlig schlaflose Nacht, deren Ergebnis ein Handlungsentwurf einer reizenden Oper mit dem Text Puschkins war“, so Tschaikowski an seinen jüngeren Bruder Modest am 18. Mai 1877.
Der Plot
Die Schwestern Tatjana und Olga wachsen auf einem Landsitz in der russischen Provinz auf. Mit dem Erscheinen Eugen Onegins gerät Tatjanas Leben aus den Fugen und eine nicht gekannte Sehnsucht erwacht in ihr. Wie im Rausch offenbart sie dem noch kaum gekannten Onegin ihre Gefühle in einem leidenschaftlichen Liebesbrief. Doch Onegins schro_ e Absage an Liebe und Ehe wendet ihren träumerischen Zustand ins Albtraumhafte. Auch ein Wiedersehen Jahre später kann die einstigen Wunden nicht schließen, einer gemeinsamen Liebe ist keine Zukunft gegeben: „Schmach, Schmerz, o elendes Geschick!"
Lenski (Roberto Ortiz, rechts) fordert Onegin (Hinrich Horn, Mitte) zum Duell | Foto: Nik Schölzel
Starkes Drama
Von Anfang an ist Tschaikowski sich der ungewöhnlichen Konzeption seines neuen Werkes bewusst. Er sucht nicht, was im Jahr nach der Uraufführung des Rings des Nibelungen in Bayreuth auf der Hand gelegen hätte, die Auseinandersetzung mit Richard Wagners Ideen von Musikdrama und Bühnenfestspiel. Ebensowenig kann er sich für Giuseppe Verdi und dessen jüngste „Grand Opéra“ begeistern, die 1871 in Kairo uraufgeführte Aida: „Die Gefühle einer ägyptischen Prinzessin, eines Pharao, irgendeines verrückten Mörders kenne ich nicht, verstehe ich nicht“, heißt es im Januar 1878 in einem Brief an den 16 Jahre jüngeren Komponistenkollegen Sergej Tanejew. In demselben Schreiben findet sich aber auch ein Hinweis auf jene Art von Oper, zu der Tschaikowski sich hingezogen fühlt: „Leider kann ich selbst nichts finden und treffe keine Menschen, die mich auf einen Stoff aufmerksam machen würden, wie zum Beispiel Carmen von Bizet – eine der wunderbarsten Opern unserer Zeit. Sie werden fragen: was will ich eigentlich? Gestatten Sie, ich sage es Ihnen. Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können.“
NUR KEINE OPER!
Puschkins Eugen Onegin – in den Worten des renommierten Slawisten Wolfgang Kasack „der einzige bedeutende ‚Roman in Versen‘ der russischen Literatur“ – bot Tschaikowski genau jenes „starke Drama, das auf Konflikten beruht“. Dass die Geschichte einer stringenten, auf einen katastrophischen Höhepunkt zusteuernden Handlungsdramaturgie entbehrt, ist Tschaikowski durchaus bewusst. Wiederholt verteidigt er diesen vermeintlichen Nachteil gegenüber Freunden und Kritikern: „Jene, die die Gabe besitzen in der Oper eine musikalische Darstellung zu suchen fern von Tragik und Theatralik, sondern alltägliche, einfache, allgemein menschliche Empfi ndungen, könnten (so hoffe ich) mit meiner Oper zufrieden sein.“ Aus der eigenwilligen Konzeption leitet Tschaikowski schließlich auch die Gattungsbezeichnung „Lyrische Szenen“ anstelle der althergebrachten „Oper“ ab. Statt einer zusammenhängenden Geschichte liefert Tschaikowskis Onegin in sieben Bildern (Szenen) eine Abfolge von drei individuellen Tragödien: die Tragödie Tatjanas im 1., die Tragödie des Dichters Lenski im 2. und schließlich die Tragödie Onegins im 3. Akt. Und nicht nur auf formaler Ebene sucht Tschaikowski mit Eugen Onegin die Abgrenzung zu Musikdrama und Grand Opéra, auch Art und Ort der Uraufführung – das Moskauer Konservatorium – sollen soweit wie möglich von allem unterschieden sein, was auch nur entfernt an „große Oper“ erinnert: „Ich werde diese Oper niemals der Theaterdirektion geben, bevor sie nicht im Konservatorium aufgeführt wurde. Ich habe sie deshalb für das Konservatorium geschrieben, weil ich hier keine große Bühne habe mit ihrer Routine, ihrer Konvention, mit ihren unfähigen Regisseuren, wenn auch in pompöser Inszenierung, mit ihren Rudermaschinen statt Dirigenten usw. usf..“
DIE INSZENIERUNG
Was ist stärker:
Das, was wir fühlen,
oder das, was wir erleben?
Regisseurin Agnessa Nefjodov
Am Mainfranken Theater stand Tschaikowskis Eugen Onegin zuletzt in der Saison 1998/99 auf dem Spielplan. Für die mit Spannung erwartete Neuinszenierung konnte Agnessa Nefjodov als Regisseurin gewonnen werden. Nach einem Schauspielstudium in Berlin führte sie ihr Weg 2004 nach Moskau, wo Agnessa Nefjodov Regie an der Russischen Akademie für Theater und Kunst studierte. Als freischaffende Regisseurin in Schauspiel und Oper war sie in den vergangenen Jahren wiederholt am Landestheater Salzburg zu Gast, wo sie unter anderem Bellinis La sonnambula und Schillers Wilhelm Tell auf die Bühne brachte. 2018/19 inszenierte sie am Theater Krefeld/ Mönchengladbach Mussorgskis Boris Godunow. Für Agnessa Nefjodov, die ihre Inszenierung gemeinsam mit Bühnenbildner Volker Thiele und Kostümbildnerin Nicole von Graevenitz erarbeitet, liegt der besondere Reiz eines Angangs an Tschaikowskis Eugen Onegin zuallererst in seiner überbordenden Emotionalität. „Die Charaktere“, so Nefjodov, „scheinen manchmal geradezu innerlich zu zerspringen. Alles wird in einer Intensität wahrgenommen, aber die Intensität findet keinen Platz in der Realität: Alles gefühlt, nichts gelebt! Mich interessiert und fasziniert an Eugen Onegin genau diese Frage: Was ist stärker: Das, was wir fühlen, oder das, was wir erleben? Gibt es vielleicht sogar Momente im Leben – wie etwa in der berühmten Briefszene Tatjanas –, in dem das am stärksten Gefühlte in Konkurrenz tritt zu dem tatsächlich Gelebten und es so zu einer stärkeren Wirklichkeit wird?“ Tschaikowski wünschte sich für die Aufführung seines Onegin Sängerinnen und Sänger, „die zugleich einfach, aber gut spielen werden“. Und so wird sich das Würzburger Opernensemble gemeinsam mit Opernchor und Extrachor des Mainfranken Theaters nach den Ausfl ügen ins große deutsche, italienische und französische Repertoire nun, erstmals unter der Intendanz von Markus Trabusch, in die Herausforderungen des russischen Repertoires stürzen – in Originalsprache! Das Philharmonische Orchester Würzburg spielt unter der Leitung von Generalmusikdirektor Enrico Calesso. In der herausfordernden Titelpartie ist Bariton Hinrich Horn zu erleben, der als Eugen Onegin ebenso ein Rollendebüt gibt wie Silke Evers (Tatjana), Roberto Ortiz (Lenski), Marzia Marzo (Olga) sowie Igor Tsarkov (Fürst Gremin) in den weiteren Hauptrollen.

EUGEN ONEGIN

PREMIERE
Samstag, 4.6. | 19:30 Uhr
Einführung um 18:55 Uhr
Theaterfabrik Blaue Halle
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